Ein Jahr nach dem Ausbruch in Wuhan sind 117 Seiten interner Dokumente der regionalen Gesundheitsbehörden in den Besitz des amerikanischen Fernsehsenders CNN gelangt.
Sie beschreiben Zahlenkosmetik, langsame Behörden und eine damals parallel laufende rätselhafte Grippewelle. Die Veröffentlichung trifft die Regierung in Peking in einem heiklen Moment – sie will gerade die Verantwortung wegschieben, nach Italien zum Beispiel.
Der britische Journalist Nick Paton Walsh (43) hat schon viel erlebt und viel erreicht, seit er im Jahr 2011 beim amerikanischen Fernsehsender CNN angeheuert hat. Für Reportagen aus Afghanistan, Syrien und aus dem Irak etwa hat er diverse Preise gewonnen. Oft haben seine Enthüllungen Politiker weltweit nicht nur beeindruckt, sondern auch beeinflusst.
Jetzt staunen viele erneut über Paton Walsh. Der Mann hat aus der traditionell völlig unzugänglichen Bürokratie Chinas ein 117 Seiten umfassendes Dokument zum Beginn des Corona-Ausbruchs vor einem Jahr in Wuhan herausgeschüttelt. „Die Wuhan-Akten“ – so überschrieb Paton Walsh seine Story, die am Dienstag auf der CNN-Seite online ging. Einen Leak dieser Art gab es bislang nicht im China des Xi Jinping.
Die Dokumente beschreiben die anfangs chaotischen Zustände in der Provinzhauptstadt Wuhan – eine Episode, von der die Führung in Peking nichts mehr wissen will. Staatspräsident Xi und seine Regierung wollen ins Bewusstsein der Welt die Deutung einsinken lassen, ihr mit harter Hand geführtes Land sei schlicht und einfach dem Westen überlegen – und deshalb coronafrei.
Drei zentrale Punkte in den Wuhan-Akten
Die wahre Geschichte aber ist, wie nun auch die Wuhan-Akten zeigen, um einiges komplizierter – und alles andere als ruhmreich. Drei zentrale Punkte ragen heraus.
1. Zahlenkosmetik gehörte in China zum Alltag.
Immer wieder stellten die Behörden, ob absichtlich oder nicht, die Lage im Ergebnis besser dar, als sie war. Am 10. Februar 2020 zum Beispiel, als Präsident Xi sich in einer Videobotschaft an das Krankenhauspersonal in Wuhan wandte, berichteten Chinas Behörden offiziell über 2478 Neuinfektionen. Für denselben Tag aber notiert ein als „vertraulich“ gekennzeichnetes internes Dokument allein in der Provinz Hubei, in der das Virus zuerst auftrat, 5918 neue Fälle.
Liefen die Zahlen noch nicht zentral zusammen?
Oder war niemand an einer schnellen Addition interessiert? Paton Walsh sieht „keinen Beweis für einen absichtlichen Versuch, die Ergebnisse zu verschleiern“ – aber „zahlreiche Unstimmigkeiten in dem, was die Behörden für wahrscheinlich hielten und was der Öffentlichkeit offenbart wurde“. Im Ergebnis jedenfalls stimmte nicht, was die Staatsführung verkündete. Schlechte Nachrichten behielten die Behörden lieber für sich, darunter auch den in den Wuhan-Akten schon vor dem 10. Februar festgehaltenen Corona-Tod von sechs Klinikmitarbeitern.
2. Chinas Behörden arbeiteten anfangs viel zu langsam.
Während das Regime nach außen hin stets betonte, es habe von Anfang an schnell und hart durchgegriffen, wurde im tatsächlichen Umgang mit den Patienten offenbar überraschend viel Zeit vertrödelt. Laut Wuhan-Akten vergingen noch Anfang März zwischen dem Auftreten erster Symptome und einer bestätigten Covid-19-Diagnose durchschnittlich 23,3 Tage. Westliche Experten zeigten sich über diese Daten verwundert; bei einer solchen Schwerfälligkeit des Systems sei es kaum möglich, einen Ausbruch zu bekämpfen oder auch nur akkurat einzuschätzen.
3. Eine konventionelle Grippe grassierte zeitgleich.
Für Anfang Dezember 2019, als die ersten Menschen in Wuhan an Covid-19 erkrankten, zeigen die von CNN erlangten Dokumente einen sehr starken Anstieg der Zahl von Grippekranken. Die Zahl der mit konventionellen Grippeviren Infizierten lag den Akten zufolge 20-mal höher als im Vorjahr. Welchen Einfluss dies hatte, ist noch völlig unerforscht; möglich wäre eine Ablenkung des Gesundheitswesens oder sogar dessen Beteiligung an der Verbreitung des Coronavirus, durch volle Arztpraxen und Kliniken.
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Kein Kommentar, keine Transparenz
Sechs westliche Experten mit häufigen China-Kontakten haben die Wuhan-Akten durchgesehen und halten sie für authentisch. Ein Teil der darin beschriebenen Probleme in der Anfangszeit, lautet ihr Urteil, hätten auch westliche Staaten gehabt. Yanzhong Huang, Senior Fellow für globale Gesundheit beim Council on Foreign Relations, sieht in China aber eine Mischung aus „bürokratisch und politisch motivierten Fehlern“ – diese hätten dann „globale Konsequenzen“ gehabt.
Auf Anfrage von CNN wollte die chinesische Regierung am Dienstag zu den Wuhan-Akten keinen Kommentar abgeben.
Im Dezember 2019 wurde er von Chinas Polizei zum Schweigen gebracht: Li Wenliang, ein chinesischer Arzt, der frühzeitig vor dem Virus warnte und daran später selbst starb, wurde im Februar dieses Jahres in Hongkong geehrt.
Beobachter in Peking erwarten, dass aufgrund der systematischen Zensur nichts von den jetzt veröffentlichten CNN-Berichten an die breite chinesische Öffentlichkeit durchdringen wird. Nur wer an den Behörden vorbei mit VPN-Tunneln und ausländischen Internetidentitäten arbeitet, hat eine Chance, an das Material zu kommen; dies ist in China ein sehr kleiner Kreis.
Einigkeit besteht weltweit darin, dass der Mangel an Transparenz in China den am Ende weltweiten Ausbruch begünstigt hat. Der erste chinesische Mediziner, der schon Ende 2019 vor dem Virus in sozialen Netzwerken öffentlich warnte, der Augenarzt Li Wenliang, wurde am 30. Dezember 2019 auf einer Polizeistation zum Schweigen gebracht. Er musste unterschreiben, dass er aufhören werde, „Gerüchte zu verbreiten und dadurch die öffentliche Sicherheit schwer zu stören“. Er starb im Februar 2020 an Covid-19, im Alter von 34 Jahren.
Die Veröffentlichung der Wuhan-Akten kommt jetzt zu einem für die Regierung in Peking heiklen Zeitpunkt. Zuletzt wuchs erneut der internationale Druck auf China, bei der Untersuchung des Ursprungs der Pandemie „vollständig“ mit der Weltgesundheitsorganisation WHO zusammenzuarbeiten.
China hat zwar immer wieder generell seine Kooperationsbereitschaft betont, unabhängige Untersuchungen de facto aber nicht zugelassen. So wurde im Februar einer Delegation der Zugang zu einem Großmarkt in Wuhan versagt, wo „Patient null“ sich angesteckt haben soll. Derzeit laufen Vorbereitungen für eine zweite WHO-Mission. Eine Teilnehmerliste gibt es schon, über den genauen Ablauf wird aber noch verhandelt.
China sagt Nein zur Idee der Aufklärung
Eine seriöse wissenschaftliche Untersuchung wurde stets gebremst durch die toxische weltpolitische Debattenlage. In den USA hatten China-Kritiker die Theorie in Umlauf gebracht, das Virus stamme aus den Hochsicherheitstrakten des Biolabors von Wuhan – das schon deshalb in Verdacht geriet, weil dort tatsächlich an Coronaviren und deren Übertragung durch Fledermäuse geforscht wurde. Für diese Theorie gibt es aber keinen Beweis. Auch ist US-Präsident Donald Trump, der selten über die Corona-Krise sprach, ohne voller Feindseligkeit das „China-Virus“ zu erwähnen, nicht mehr lange im Amt.
Ein deutscher Virologe macht die Verwirrung komplett
Dennoch ist der Streit um den Ursprung des Virus in letzter Zeit noch giftiger geworden. Diesmal kommen die Theorien aus China selbst: Mal heißt es in chinesischen Medien, das Virus komme in Wahrheit aus Italien, mal sollen es die Amerikaner eingeschleppt haben, mal wird auch behauptet, es sei nur durch eingefrorene Lebensmittel aus Europa nach China gelangt.
In den letzten Tagen machte ausgerechnet ein deutscher Virologe, Alexander Kekulé aus Halle, die weltweite Verwirrung komplett. „Das Virus, das gerade weltweit grassiert, ist nicht das Virus aus Wuhan, es ist das Virus aus Norditalien“, sagte er bei Markus Lanz – und verwies auf eine „höchstwahrscheinlich“ in Italien entstandene noch infektiösere genetische Variante.
„ Es ist das Virus aus Norditalien“: Alexander Kekulé bei Markus Lanz.
Für die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua ist das ein gefundenes Fressen. Am 1. Dezember um 13 Uhr europäischer Zeit gab sie eine schöne neue Nachricht weltweit auf den Sender: „Deutscher Virologe: Coronavirus-Pandemie begann in Norditalien“.
Die Verbreitung dieser Neuigkeit aus Europa in ganz China ist garantiert – und hilft Peking auf viel elegantere Weise an den CNN-Enthüllungen vorbei als irgendein angestrengtes Dementi.
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