- Claudia Siebert ist Frührentnerin und Risikopatientin, ihr Ehemann arbeitslos und Corona-Skeptiker.
- Er glaubt an geheime Mächte, gesteuerte Medien und manipulierte Infektionszahlen.
- Sie hält dagegen. Das ist aber nicht immer die sinnvollste Strategie, sagen Psychologen.
Irgendwann hat es angefangen. Irgendwann habe er aufgehört, Nachrichten zu konsumieren, langjährige Freunde zu treffen oder auch nur mit ihnen zu telefonieren. „Irgendwann hat er nur noch Zahnpasta ohne Fluorid gekauft, weil Fluorid uns alle vergifte“, sagt Claudia Siebert über jemanden, der ihr seit mehr als 20 Jahren so nahe steht und sich doch immer weiter von ihr entfernt: ihr eigener Ehemann.
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Zunächst habe ihn die Esoterik gereizt, lange vor Corona, lange bevor das Virus den Alltag gesprengt hat und etliche Maßnahmen, Regeln und Ratschläge ihn neu zusammengesetzt haben. Heute sind es Verschwörungsmythen, mit denen sich ihr Mann ein Weltbild zurecht puzzelt, das nicht nur Claudia Sieberts Ehe gefährdet, sondern vor allem ihre Gesundheit.
Claudia Siebert heißt in Wahrheit anders. Weniger aus Angst vor Reaktionen von außen als aus Sorge um das letzte bisschen Frieden zu Hause möchte sie in diesem Text anonym bleiben – und trotzdem die Öffentlichkeit wissen lassen, wie es ist, einen nahen Angehörigen an die „Schwurblerszene“ zu verlieren, wie sie selbst sagt. Ihr Fall soll zeigen, wie wenig stereotypisch Verschwörungsgläubige sind und wie hilflos Angehörige; aber er soll auch zeigen, welches Verhalten helfen kann und welches eher nicht – und wann jede Hilfe womöglich vergebens ist.
Verschwörungstheorien sind keine Theorien
In vielen Familien wird angesichts der massiv steigenden Infektionszahlen (wieder) diskutiert: Sind die Maßnahmen zu streng? Sind sie noch nicht streng genug? Sollen wir die Maske nicht auch draußen freiwillig tragen? Den Urlaub absagen, oder gleich das Weihnachtsessen? Und während die allermeisten Kritiker sich argumentativ auf die Beschneidung ihrer freiheitlichen Grundrechte beschränken, gibt es in wohl jedem Bekanntenkreis inzwischen jemanden, der es vermeintlich besser weiß: Jemand, der sich in ominösen Telegramm-Chatgruppen tummelt und Links zu kruden Youtube-Videos verschickt oder selbst jene Gedankenkonstrukte wiedergibt, die dort aufzuschnappen sind. Manchmal sind es Menschen, denen man diese Wissenschaftsferne nie zugetraut hätte, die nie zuvor aufgefallen sind mit Verschwörungstheorien.
Aber was sind Verschwörungstheorien überhaupt?
Vor allem sind es keine Theorien. „Eine Theorie ist eine wissenschaftlich nachprüfbare Annahme über die Welt“, schreiben Pia Lamberty und Katharina Nocun in ihrem kürzlich erschienenen Sachbuch „Fake Facts“, einer 300-seitigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fake News und Verschwörungserzählungen. Letztere zeichneten sich eben dadurch aus, dass sie sich der Überprüfbarkeit entziehen, erklären Sozialpsychologin Lamberty und Politikwissenschaftlerin Nocun, die den Begriff „Verschwörungstheorien“ meiden, um nicht jede „noch so verrückte Idee als Theorie aufzuwerten“.
Dennoch haben alle einen gemeinsamen Nenner. Die beiden Expertinnen definieren eine Verschwörungserzählung als „Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunkeln lassen.“
„Er versteifte sich in den Gedanken, die Pharma-Industrie sei eine Mafia“
„Das Virus wurde als Biowaffe in einem Labor in China gezüchtet“, „Microsoft-Gründer Bill Gates will uns alle zwangsimpfen und uns mit einem injizierten Mikrochip überwachen“ oder „das Virus wird über die 5G-Sendemasten übertragen“ sind die gängigsten Verschwörungserzählungen, die seit der kollektiven Bedrohung durch die Corona-Pandemie Zulauf finden – in Telegramm-Chatgruppen mit Zehntausenden Teilnehmern oder auf Versammlungen, wie zuletzt am Wochenende in Berlin, Dortmund und Stuttgart mit einigen Tausenden Demonstranten.
Was jetzt sichtbar wird, lag schon länger im Verborgenen: Laut einer repräsentativen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Frühjahr 2019 glaubte schon damals – lange vor Corona – fast die Hälfte der Befragten (45,7 Prozent) an geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Ein Drittel (32,7 Prozent) war der Meinung, Politiker und andere Führungspersönlichkeiten seien nur Marionetten anderer Mächte. Jeder Vierte (24,2 Prozent) gab an, Medien und Politik steckten unter einer Decke.
Auch bei Claudia Sieberts Ehemann bahnte sich lange an, was Corona bloß beschleunigt: Als junge Erwachsene – das genaue Jahr soll hier unerwähnt bleiben – bekam sie die Diagnose Multiple Sklerose (MS), seit dem geht es körperlich bergab. Immer wieder hätten sie gemeinsam nach alternativen Behandlungsmethoden geschaut, weil Standardtherapien zunächst nicht anschlugen. Während sie bei Heilpraktikern vorsichtig Rat gesucht habe, sei ihr Mann zügig in esoterische Kreise abgedriftet, sagt Claudia Siebert, „er versteifte sich in den Gedanken, die Pharma-Industrie sei eine Mafia“.
Ihr Mann, nach dem Abitur und einer anderen Ausbildung jahrelang als Ergotherapeut selbst in der Welt der Medizin tätig, habe nach und nach begonnen, sich nicht mehr über klassische Medien (Radio, Zeitung, Fernsehen) zu informieren. Stattdessen hätten ihn Blogger im Internet beeindruckt, Daniele Ganser etwa, der Schweizer Historiker, der bisher vor allem mit kruden Thesen zu 9/11 aufgefallen ist, oder Ken Jebsen, der ehemalige RBB-Journalist, der als KenFM auf Youtube Halbwahrheiten und Verschwörungsmythen aller Art verbreitet.
„Ich habe mich da anfangs rausgehalten“, sagt Claudia Siebert, „ich habe gar nicht gemerkt, wo er gelandet ist mit der Zeit. Das hatte wohl kaum mehr etwas mit Medizin zu tun.“ Gelandet sei er bei den „Deep-State“-Verschwörungen. Und nun überzeugt davon, das geheime Mächte alles steuern. Während sie Gegendemos zu „Querdenker“-Versammlungen besucht.
Viele Grauzonen, viele verschiedene Motivationen
Die Sieberts leben in einer mittelgroßen Stadt zwischen Rheinland und Ruhrgebiet, keineswegs abgeschieden, schon gar nicht von Covid-19. Das Virus ist in den Ballungsräumen Nordrhein-Westfalens von Beginn der Pandemie an sehr präsent, und ähnlich wie im Frühjahr breitet es sich gerade wieder rasant aus in den Städten, die zwischen Rhein und Ruhr oft sehr nah beieinander liegen. NRW ist mit Abstand das Bundesland mit den meisten Neuinfektionen, täglich werden weitere Orte zu Risikogebieten erklärt, die Karte färbt sich mehr und mehr rot. Claudia Sieberts Ehemann tangiert das nicht. Zum einen, weil er die Nachrichten ja nicht aktiv verfolgt, sie ignoriert, und zum anderen, weil er sie nicht glaubt. „Ob es pro Tag 500 oder 5000 Neuinfektionen gibt, könne ja keiner überprüfen, meint mein Mann. Die Menschen in den Testlaboren würden ihre Arbeit vielleicht sogar ordentlich machen, sagt er, aber da, wo die Zahlen zusammenlaufen, werde ja manipuliert.“
Wie aber soll man etwas belegen, das man selbst nicht belegen kann? Hoch komplexe Prozesse erklären, ohne Virologe zu sein, Epidemiologe oder politischer Entscheider? Am besten gar nicht, rät Claus-Christian Carbon, Psychologie-Professor an der Universität Bamberg. Wichtig sei es, eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden, und zwar eine emotionale – sofern der- oder diejenige noch empfänglich dafür sei. „Sachlichkeit hilft selten“, sagt Carbon, „Forschungen zeigen, dass Menschen vor allem durch Empathie zu erreichen sind.“ Dazu gehöre auch, zu hinterfragen, wie es dazu kommen konnte, zu verstehen wo Verzweiflung, Angst und Sorgen um sich gegriffen haben, statt Menschen vorschnell zu verurteilen. „Wer alle Corona- und Impfskeptiker pauschal als Verschwörungstheoretiker abtut, trägt zur Spaltung der Gesellschaft bei“, so der Psychologie-Professor. „Da gibt es sehr viele Grauzonen, viele verschiedene Motivationen und eben auch viele zuvorderst verunsicherte Menschen, die man ernst nehmen sollte.“
Angehörige erkennen diese geliebten Menschen oft nicht mehr. Claudia Siebert sagt: „Hätte unsere Ehe nicht so viel Substanz, wären wir wohl nicht mehr zusammen.“ Ihr gemeinsamer Freundeskreis habe sich verändert, verkleinert viel mehr, so wie ihr ganzer Lebensradius. Seit einiger Zeit ist ihr Mann arbeitslos, beide sind fast 24 Stunden täglich zu Hause. Offen sprechen kann sie nur, wenn ihr Mann oder sie selbst beim Sport ist. Mit Freunden und Bekannten meiden sie das Thema Corona, unter den beiden bleibt es Streitthema. Als sie kürzlich Bekannte in der Stadt trafen und ihr Mann sie prompt umarmte, während sie nur den Ellenbogen zur Begrüßung ausstreckte, reichte es ihr. „Ich habe auf den Tisch gehauen, ihm klar gemacht, dass er meine Gesundheit gefährdet.“ MS habe ihr schon so vieles genommen, Corona dürfe es nicht auch tun. „Ich habe das Gefühl, dass ich noch Einfluss nehmen kann“, sagt Claudia Siebert. Sie kontrolliere seine Quellen, suche Fakten raus, widerlege seine Thesen, halte täglich dagegen. Ihre Stimme bricht, wenn sie auf die Frage antwortet, ob sie dazu überhaupt die Kraft habe: „Die nehme ich mir. Ich kann das nicht so stehen lassen.“
Im besonnenen Dialog bleiben
Wenn Menschen am Anfang stehen mit kruden Verschwörungsgedanken, kann man noch argumentieren, meint Sozialpsychologin und Autorin Pia Lamberty. Wichtig sei, dabei so konkret wie möglich zu werden. „Leider ist auch das nicht immer fruchtbar.“ Viele Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben, seien schon vorher anfällig für so etwas gewesen. „Verschwörungserzählungen bieten narzisstisch veranlagten Personen die Möglichkeit, mit vermeintlichem Wissen zu glänzen, sich über die Dinge zu stellen. Während der echte Kampf gegen das Virus wenig heroisch ist: Masken zu tragen und zu Hause auf dem Sofa zu bleiben.“
Das aktuelle Bedrohungsszenario mag für Herrn Siebert bedrohlicher sein als für andere: Da ist der Jobverlust und die fehlende Aussicht auf eine neue Anstellung, die unheilbare Krankheit seiner Frau, die seit Jahren mehr Raum einnimmt, und da ist der diffuse Feind namens Covid-19, dessen medizinische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Langzeitfolgen noch niemand absehen kann. In dieser Situation sollte man keinesfalls Defizit orientiert an die Sache herangehen, rät Psychologe Claus-Christian Carbon. Jemanden wie Herrn Siebert also besser da packen, wo er selbst gut drin ist, zum Beispiel beim Thema Ergotherapie, und dort ansetzen, etwa bei medizinischen Standards. Im besonnenen Dialog bleiben ist seine Devise bei den allermeisten Verschwörungsaffinen Menschen.
Die Grenze zieht Carbon bei den wenigen, aber lauten Anführern dieser Bewegung, die aktiv eingreifen, über ihre Kanäle Falschinformationen verbreiten und gezielt destruktiv handeln. „Die kann man nicht mehr erreichen. Denn das ist teilweise ihr Geschäftsmodell: die Freude an der Zerstörung – während sie es vielleicht insgeheim selber Masken tragen. Das sieht auch Pia Lamberty so: „Man sollte weniger mit und über Menschen wie Attila Hildmann, Xavier Naidoo oder Michael Wendler reden, sie weniger in die Mitte rücken lassen, sondern die breite Mehrheit stärken.“ Dadurch erreiche man die Menschen, die gedanklich auf der Kippe stehen zu Verschwörungsmythen, sicherlich besser.
Claudia Siebert will das verschobene Weltbild ihres Mannes weiter bearbeiten. „Das wird nicht verschwinden, es wird gerade von allen Seiten unterfüttert.“ Er habe ihr immerhin versprochen, vorerst niemanden mehr zu umarmen, sich die Hände oft zu waschen und gebe sich nur noch als Impfskeptiker, nicht als -gegner aus. Wenn die Pandemie irgendwann vorüber ist, hofft Claudia Siebert, dass Ruhe einkehrt. Der nächste Sommer sei ihr Anker in Gedanken.
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